Die Fenster sind ungeputzt, und wer vom Vorgarten aus durchs Glas ins Innere schaut, sieht einen verdreckten Schankraum, wahllos übereinander gestellte Stühle, mehrere Farbeimer. Überall Handwerkerabfall, daneben eine umgekippte Leiter und ansonsten Leere. Kein Licht brennt, alles wirkt verlassen. Am denkmalgeschützten Gebäude aus dem 18. Jahrhundert in Friedrichshagen hatten sich bereits Graffiti-Schmierer zu schaffen gemacht. Restaurant und Genusshandel “Die Spindel” hieß der Laden einst. Damals, zu seinen Blütezeiten. Heute verweilen die Leute beim Bummel über die Bölschestraße ratlos vor den runtergerockten Mauern und fragen sich: “Wieso zieht keiner rein?” Dachziegel scheinen locker, es bröckelt. Immerhin ist die Fassade gerade gestrichen und am Fußboden was genacht worden. “Spindel”-Chef Hendrik Canis und Ehefrau Janet verabschiedeten sich vor zweieinhalb Jahren: “Schön war’s. Lebenspläne ändern sich. Jetzt brechen wir gemeinsam auf zu neuen Ufern.” Der Zettel ist längst abgehängt. Um den Zustand des einstöckigen Hauses steht es seitdem wie mit der Jahreszeit. Langsam wird’s Winter.
Plopp, plopp, plopp! Als noch Frühjahr war, knallten in der Spindel die Korken fast täglich als wäre Silvester. Handgerüttelter Winzersekt und der beste Sauvignon Blanc aus der Pfalz, Grüner Veltliner vom Edel-Winzer aus Österreich, prämierte Rotwein-Tropfen aus Baden und von der Nahe, Gläser mit gut gekühltem Rothaus-Pils vom Fass waren ebenso im Angebot wie der hauseigene auf Schwarzwald-Gin basierende “Spindel Spritz”. Ab fünf Euro ging’s beim Weißwein los. Da hält man doch gern die Nase rein. Preislich nicht ganz billig, aber fair kalkuliert und auf allerhöchsten Niveau. Wenn die alten Gemäuer wispern könnten, sie würden so manche Geschichte erzählen.
Im Jahr 1993 gibt’s in einer Stampe in Tempelhof folgenden Dialog. Taxi-Thommy fragt Köpenick-Kutte: “Du hast doch früher in Friedrichshagen gewohnt. Dieses Wochenende mache ich dort mit meiner Freundin einen Ausflug hin. Haste ‘nen Tipp, wo wir was Essen sollten?” Köpenick-Kutte antwortet: “Geht bloß nicht in die Spindel! Die sind da so vornehm, da geben sich die Kellner gegenseitig Trinkgeld.” Gehobene Gastronomie hatte es schon zu DDR-Zeiten gegeben. Gekocht wurde chinesisch, eine fast einmalige Gastro-Sensation. Ein Interflug-Kapitän brachte die Zutaten mit. Wer einen Tisch wollte, wartete bis zu neun Monate. Früher war eine Kneipe und eine Zoohandlung drin. Später kam die Bedienung mit weißem Hemd und Weste, servierte im plüschigen Mobiliar viel Fisch, aber auch Jägerschnitzel, Würzfleisch, Soljanka oder immer irgendwas mit Letscho.
Mit dem neuen Inhaber wurde ab 2008 alles anders. Canis kam nach weiteren Stationen ursprünglich aus dem Sternerestaurant “Vau” vom Gendarmenmarkt (Mitte), wo er als Wein-Experte (Sommelier) die Gäste umschwirrte und zahlreiche Branchenpreise abräumte. “Vau”-Chef Kolja Kleeberg hatte ihn ungern ziehen lassen: “Hendrik ist einer der besten Gastgeber Berlins.” Mit an den Müggelsee brachte Canis Küchenchef Jörg Eichhofer. Der brutzelte zuvor österreichisch im Kreuzberger “Jolesch”, das berühmt ist für seine Wiener Schnitzel. Canis und Eichhofer entrümpelten das Lokal und machten aus ihm einen gemütlichen Gasthof mit französischem Charme. Mit Tischen aus Holz, Kunst an den Wänden, weißen Tischdecken, hellen Farben Kaminfeuer, frischen Blumen, Stammtisch und einer Kreidetafel. Darauf präsentierten sich die häufig wechselnde Menüküche (drei Gänge, 33 Euro, vier Gänge 44 Euro) und weitere Leckereien. Eichhofer setzte auf bodenständige Landkost, die er kreativ interpretierte. Frische Kräuter vom Feld, Fisch, Wild. Auf der Karte las sich dann das so: Gratinierte Feige mit Ziegenkäse und Orangenchutney. Oktopuscarpaccio mit grünem Spargel, Ingwer und Chorizo. Offene Lasagne mit Ochsenschwanz und Parmesan. Lamm mit Artischocke und zum Abschluß Honigeis und Schokosoufflee. Das Feinschmecker-Magazin “Gault & Millau” goutierte das Angebot mit stattlichen 15 Mützen.
Den Hut auf in Friedrichshagen haben allerdings die Friedrichshagener und schnell stellte sich raus, dass die Bewohner des Berliner Randstadtteils nur wenig mit dem Spindel-Modell aus der hippen City anfangen konnten. Es war schlicht ein Missverständnis. Nicht selten bildeten sich vorm Laden kleine Rentner-Gruppen, die sich laut beklagten, wie “schlecht und teuer” die “Spindel” geworden sei. Manchmal kam es zu ganz absurden Szenen. Etwa, als ein älterer Herr im Ton eines Armee-Generals Küchenchef Eichhofer zum Rapport an den Tisch bestellte und über dessen Bouillabaisse wütete: “Diese Fischsuppe ist ja zum Kotzen.” Gäste aus der als vermögend geltenden Nachbargemeinde Schöneiche und die meisten im Südosten Berlins angesiedelten Stars und Sternchen ließen sich ebenfalls kaum blicken. Stattdessen machten sich Gourmets aus ganz Deutschland auf den Weg, nicht selten sogar internationale Gäste. Einmal reservierte die Familie eines Scheichs die gesamte “Spindel” für einen Abend. Canis erinnert sich: “Wir hatten auf Bestellung Austern geordert, alles war vorbereitet. Dann kam die Limousine mit dem Scheich, die kurz anhielt und schließlich weiterfuhr, ohne dass jemand ausstieg. Die Spindel blieb den ganzen Abend leer. Bezahlt haben die trotzdem.”
So sehr sich die “Spindel”-Crew auch mühte, das Stammpublikum aus der Nachbarschaft blieb aus und der Rotstift zog sich immer deutlicher durch die Bilanzen. Die intern diskutierte Konzept-Änderung hin zu günstigeren Angeboten mit Qualitätseinbußen war mit Canis nicht zu machen. Am Ende kam’s wie es kommen musste: Flasche leer!
Im Jahr 2015 ging die “Spindel” an Butter-Lindner. Canis: “Wir haben einen ziemlich ordentlichen Verkaufspreis erzielt.” Der Verkehrswert der Immobilie lag bei 580 000 Euro und durch Friedrichshagen waberten Gerüchte über die Nachnutzung. Erst hieß es, Butter-Lindner würde mit seiner Feinkost einziehen, danach war eine Kochschule im Gespräch. Interesse zeigten auch zwei Gastronomen, die ein Lokal im Stil eines guten Bistros aufziehen wollten. Doch ein erheblicher Wasserschaden im ersten Stock durchkreuzte die Pläne. Diesen Frühjahr und Sommer kamen Handwerker, renovierten und gaben als Neuigkeit raus: “Hier kommt wieder ein Restaurant rein.” Canis glaubt, dass bei den Arbeiten eher nur “das gemacht wurde, was getan werden musste”. Butter-Lindner würde wohl eher die Preisentwicklung auf dem Immobilienmarkt abwarten, bevor etwas passiert.
Anfrage an die Robert Lindner GmbH. Schon vor Wochen. Erbitte Informationen über die Zukunft der Immobilie und darüber, welche Probleme möglicherweise im Weg stünden. Die Robert Lindner GmbH antwortet mit dem Verweis, dass nicht sie, sondern die Lindner Wohnbauten GmbH Eigentümerin des Hauses sei und dort alle Fragen beantwortet würden. Bis heute gibt’s keine Stellungnahme. Keine Antwort ist auch ‘ne Antwort.